Alle "heiligen Bücher" haben als Sammlung von Erfahrungen mit dem Heiligen eine längere Entstehungsgeschichte. Sie sind nicht von heute auf morgen entstanden. Geht es beim Werden des Buches zunächst um die Sammlung von möglichst vielen Beschreibungen von erlebten Gotteserfahrungen, die sprachlich immer noch verändert werden können, so werden diese Texte in einer späteren Phase "heilig" und können damit nicht mehr modifiziert, sondern nur noch durch neue Texte ergänzt werden. Dieser Prozess der Verschriftung endet damit, dass abschließend festgelegt wird, welche Texte endgültig zum "heiligen Buch" gehören. Diese festgelegte Zusammenstellung von als normativ angesehenen Schriften einer Religion bezeichnet man als Kanon. So umfasst der Kanon der hebräischen Bibel im Gegensatz zum Alten Testament nur 39 Bücher. Es fehlen dort die ausschließlich in Griechisch vorliegenden Texte Tobit, Judit, die Weisheit Salomos, Jesus Sirach, Baruch und die zwei Makkabäer-Bücher.
In den "heiligen Büchern" geht es primär um Erfahrungen mit dem Höchsten und erst in zweiter Linie um Gesetze und Gebote, die von Menschen einzuhalten sind: "Wer seinen Gott verloren hat, der kann ihn in diesem Buche wiederfinden, wer ihn nie gekannt, dem weht hier entgegen der Odem des göttlichen Wortes" (Heinrich Heine). Dass Begegnungen mit Gott im Vordergrund stehen, zeigt sich darin, dass die "heiligen Bücher" immer von Schriften begleitet werden, die das gegenüber dem Heiligen angemessene menschliche Verhalten beschreiben: Talmud im Judentum, Scharia im Islam und Moraltheologie im Christentum.
Der jüdische Religionswissenschaftler Pinchas Lapide dazu: "Heilige Bücher kann man wörtlich nehmen oder man nimmt sie ernst. Beides zusammen verträgt sich nur schlecht."
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Barthel Schröder