Der Klang des Kirchenraums

Die Severinschule, eine Förderschule für sehbehinderte und blinde Kinder (nahe der Severinsbrücke), stellt den Kontakt zum Autor des Artikels her. Dr. Siegfried Saerberg ist blind.

Der Soziologe hat in Köln, Konstanz und Dortmund studiert, lebt im Bergischen Land. Neben mehreren Lehraufträgen ist er u.a. engagiert im Verein "Blinde und Kunst".

Spontan hat er zugesagt, seine Kirchenraum-Erfahrungen mitzuteilen.

An einem Abend sitze ich mit meiner Tochter vor dem Bildschirm. Es läuft ein Video. Ein junger Film mit zahlreichen Stimmen, menschlicher und auch fremdwesenhafter Art. Viel rhythmische Musik dazwischen. Bilder flackern dazu, mir allerdings verborgen. Wir essen Chips aus der Dose, der chemisch verstärkte Geruch dieser Speise okkupiert den Raum. Ich trinke ein Bier aus dem Kühlschrank, die Kühle umfasst meine Finger. Moderner Medien­genuss eingebettet in eine duftende und schmeckende Konsumwelt.

An einem anderen Tag begebe ich mich auf die Suche nach einem anderen Klang und einer anderen Atmosphäre; dem der Kirchen in Köln, romanisch, domhaft. Der Dom ist dem Hauptbahnhof anvertraut. Die Schritte sind leicht gesetzt, die Richtung mir klar. Der Dom ist ein Bienenkorb. Gemurmel. Mobiles Gebimmel. Schritte jedweder Art: elegante Frauenschuhe, jung, alt, gemessen oder vorsichtig verbergend. Ich nehme Platz. Beginne meine ausführlichen Klangstudien. Ein Hall, weit aber hoch, der sich nach oben verliert, dem irgendwie der Himmel offen steht, dadurch aber auch die Hörenden verlässt.
Ich kehre zurück zum Bahnhof, meiner heutigen Basisstation. Das Tourismus-Infosystem weiß für einen Blinden nur schwer Orientierungsrat. Ich frage mich besser durch.
Sankt Andreas ist verkehrsumbraust. Ich sitze in meiner Bank und lausche darauf, wie sich im Kirchenraum die Wogen des Straßen­brausens nicht brechen – nein, auch nicht verlieren oder verebben, sondern gleich bleibend und unentwegt einfach nur rauschen. Irgend­wie eine kleine Kathedrale, die einem immateriellen Widerstand nicht Einhalt gebietet, sondern einfach koexistiert. Das Rauschen in sich aufnimmt und es durchaus auch zum Hintergrund eigenen Klingens erklärt hat.

Der Klang des Kirchenraums (c) SilviaBins

Zum Abschluss noch Groß St. Martin. Hier greift der andere Zustand – wollen wir ihn das Heilige nennen – nach mir. Rauschen und Murmeln sind hier nicht verstummt, aber deutlich in ihre Schranken gewiesen. Der Raum klingt nicht so hoch wie im Dom, viel tiefer um mich herum, eine Weite der Versenkung oder des Versinkens?

Funkelnde Dunkelheit; klar deutlich, Welle des Schweigens.
Empfang gebietet Ruhe: Der Eintretende erschrickt vor der eigenen Macht.
Vorsichtig, langsam. Vervielfältigung.
Jeder Schritt flieht, sofort fort fließend von Beginn an,
durchschwappt diesen dunklen Hafen, läuft seitlich, rund um, verliert sich kurz in Weite.
Von oben dann wieder Nähe: Rückkunft.
Gesang wühlt Vibration, zittern zwischen Stimme und Raum.
Wort wirkt, weil es Stille gibt.

Das Psalmwort "Du schaffst meinen Schritten weiten Raum" kann ich nur als einen Möglichkeitsraum verstehen: In der Meditation bin ich gerade in der Präsenz des Heiligen durch dessen unbegrenzte Weite umhegt. An jenem Ort räume ich selbst meinen Platz für Weite, lösche aus in meinen profanen raumgreifenden Handlungen und dehne mich dadurch aus in die spirituelle Weite dieser Präsenz. Ausgebreitet in Resonanz strecke ich alle Muskeln des Körpers und alle Sehnen der Gedanken. Ich wäge vorsichtig meine nächsten Schritte, um draußen in der Welt dann jene grenzenverschiebende, aber achtsame Einräumung zu erreichen, keine Raumeroberung, der nur zu oft Raum­zerstörung folgt.

Krypta St. Severin (c) SilviaBins

Dann der Heimweg. Ich denke an Pfarrer Quirl, der mir vor geraumer Zeit die Klangräume von St. Severin gezeigt hatte. Die Krypta mit ihrer kühlen, nach Jahrtausenden schmeckenden Enge. Den Hochchor und das Innenschiff der Kirche, die kleine Seiten­kapelle. Alles eigene Klangräume, die je eigenen sakralen Zwecken angepasst sind und Atmosphären entfalten. Meine Gedanken gehen weiter ein paar Jahrhunderte zurück ins Mittelalter.
Wie sinnenhaft entrückt muss dort von den Gläubigen eine Messfeier in einer Kathedrale erlebt worden sein!
Der Duft des Weihrauchs, Blumen, Kerzen, bunte Fenster, feierliche Gewänder, die Entgegennahme der Hostie, Rosenkränze in den Händen und schließlich das Versinken im Klang der Gesänge unter Einsatz zahlreicher klingender Messgeräte in den Kirchenräumen mit ihren langen Nachhall-Zeiten.
Und heute?

Die Konkurrenz durch die merkwürdig profane Heiligkeit unseres Medienzeitalters?
Haben Kirchenräume in ihrer sinnlichen Vielfalt nicht eigentlich viel mehr zu bieten als diese? Man müsste nur das Hinhören und auch die anderen Sinnesmöglichkeiten viel mehr und neu kultivieren.