Ungewohnte Einblicke in eine den meisten Menschen unvertraute Lebenswelt gibt der Gefängnispfarrer Reiner Spiegel. Der 69-jährige arbeitet seit mehr als 34 Jahren in der JVA Düsseldorf. Pfarrer Johannes Quirl, mit dem er langjährig befreundet ist, stellte den Kontakt her.
Wenn ich ausgehend vom Thema "Versöhnung" auf meine Erfahrungen mit Gefangenen blicke, so ergibt sich ein durch und durch gemischtes Bild. Zunächst einmal sind viele Inhaftierte mit sich selbst nicht im Reinen, stolpern sozusagen ständig über die Felsbrocken in ihrer Seele. Und wenn ich bedenke, dass ernsthafte Versöhnung mit anderen nur möglich ist, wenn ich mit mir selbst einigermaßen versöhnt lebe, dann sind im Knast viele Menschen erst am Anfang eines langen Weges.
Die Gefängniswelt ist als Lebensraum nicht gerade dazu angetan oder hilfreich, sich mit einem solch großen Thema zu beschäftigen. Die überwiegende Zahl der Menschen im Knast ist abhängig (Drogen, Alkohol) – da ist Verdrängung die vorherrschende Bewältigungsstrategie. Und nur wer lernt, mit seiner Angst umzugehen, kann sich auf den langen Weg der Versöhnung begeben. Wenn ich mich innerlich ausziehe und sozusagen nackt vor mir stehe, dann muss ich mindestens eine starke Hoffnung auf neue Bekleidung haben.
Meine Aufgabe ist es zuzuhören, immer wieder zuzuhören, um verstehen zu können. Und ich muss versuchen, einen angstfreien Raum zu schaffen, der es meinem Gegenüber ermöglicht, sich zu öffnen. Oft sind das lange und weite Wege, die ein Mensch zu sich selbst zurücklegen muss. Und das kostet Kraft. Einige schaffen diesen Weg erst in einem Alter zwischen 30 und 50 Jahren, viele schaffen es leider nicht.
Da die meisten Inhaftierten (irgendwie) an Gott glauben, steht natürlich irgendwann – warum sollte man auch sonst mit dem Pfarrer reden – die Frage im Raum, wie dieser Gott wohl mit meinem verkorksten Lebensweg umgeht. Und dann muss ich mich auch nicht zurückhalten, sondern kann etwas Erhellendes aus der Botschaft Jesu aufzeigen; natürlich immer erst dann, wenn mein Gegenüber darauf zu sprechen kommt.
Viele können sich nicht vorstellen, dass es einen endgültig verzeihenden Gott gibt. Viele sind so sehr in einem falschen Gerechtigkeitswahn verhaftet, dass sie fast nach Bestrafung schreien. Manche denken, sie kämen so oder so in die Hölle. Es gibt also viele "verquere" Vorstellungen, die einen Weg in die Offenheit eines versöhnten Lebens schwierig machen. Und doch gibt es immer wieder Gefangene, die diesen schwierigen Weg zu sich selbst gehen.
Meine Rolle sehe ich als die des Begleiters, natürlich eines Begleiters mit einem Glaubenshintergrund, der sich an unseren heiligen Schriften zu orientieren versucht. Ich versuche, meinem Gegenüber den Freiraum zur Aussprache seines Inneren zu geben. Und manches Mal kommt dann auch die Frage, was ich über das Gehörte denke. Dann bin ich wieder bei der Botschaft Jesu.
Inhaftierte, die einen kirchlichen Hintergrund haben, bitten auch um die Beichte. Manchmal kommen auch Menschen anderer religiöser Richtungen mit der Bitte um Beichte. Das bedeutet meist, dass sie in einem geschützten Rahmen "über alles" sprechen wollen. Und "alles" meint dann immer das ganze Leben, das eine solch katastrophale Ausrichtung bekommen hat. Viele Gefangene waren längst Opfer, bevor sie Täter wurden – das ist wichtig festzuhalten, wenngleich keine "Entschuldigung."
Ich denke da immer wieder an den Spruch, der im Dienstzimmer meines ersten Anstaltsleiters hing: "Der Mensch ist mehr als seine Taten!"
Dabei stellt sich auch die Frage nach der Versöhnung mit Opfern von Straftaten. Der Justizapparat ist an dieser Stelle eher wenig hilfreich. Hilfreich ist nach meiner Erfahrung, wenn das Versöhnungsangebot auf eine Bereitschaft der anderen Seite trifft. Bei der Mehrzahl der Straftaten gibt es allerdings kein identifizierbares Opfer, zum Beispiel beim Ladendiebstahl oder vielen Formen von Einbruchdiebstahl, die nicht in Privaträumen stattfanden. Und immer dann, wenn eine Versicherung den Schaden wieder gutmacht, ist bei den meisten Beteiligten die Neigung zu weiterer Beschäftigung mit dem Geschehenen nicht gerade groß. Für viele Gefangene bleibt nur der knast-typische Satz: "Ich hab’ wieder Scheiße gebaut!" und der damit verbundene Mist kommt auf den Misthaufen des ohnehin verkorksten Lebens.
Natürlich gibt es auch die Ausnahme: Eine Versöhnung mit Opfern von Straftaten. Meist bleibt es jedoch bei einer einfachen Entschuldigung vor Gericht, die immer unter dem Makel leidet, sich "bessere Karten" für das Urteil zu besorgen.
Sucht ein Inhaftierter ernsthaft nach Versöhnung, rate ich dazu, einen Brief an die Opfer zu schreiben, entweder über den Richter des Verfahrens oder nach dem Urteilsspruch.
Viele Inhaftierte sind psychisch auffällig oder psychisch erkrankt. Da ist erst einmal eine Therapie angesagt. Sich darauf einzulassen ist schwierig. Es gibt eine große Angst davor, dass andere etwas mit mir machen. Erst wenn die Angst bewältigt und die Therapie erfolgreich ist, kann die Frage nach Schuld und Versöhnung gestellt werden.
Natürlich gibt es Unversöhntheit. Auch da heißt es dabeibleiben. Und hier, denke ich, ist mein Gebet gefordert. Denn der EWIGE ist der EINZIGE, der angemessen mit solch verfahrenen Lebenssituationen umgehen kann. Und wenn sich nach Zeiten dann doch etwas bewegt, ist es vielleicht SEIN Wunder. Und wenn sich nichts bewegt, muss ja immer noch ein Mensch da sein, der die Situation mitträgt und aushält.
Wer sich mit Pfarrer Reiner Spiegel in Verbindung setzen möchte, kann dies über die Pfarrbriefredaktion tun.