Können zwischen Menschen aus sehr verschiedenen Kulturen und Lebensbedingungen Freundschaften entstehen, oder bleibt man sich letztlich doch fremd?
Stefanie Manderscheid von der Pfarrbriefredaktion geht dieser Frage nach und beschreibt persönliche Erfahrungen.
Als 2015 sehr viele Flüchtlinge nach Deutschland kamen, war es zunächst unsere jüngste Tochter, die vom Leid der Menschen betroffen war und etwas tun wollte. Damals war unsere Tochter 13 Jahre alt, und so dachten wir, dass es am besten sei, wenn wir eine Familie mit Kindern kennenlernen könnten.
Wir bekamen Kontakt zu Familie Al Tajir* aus Libyen. Der Familienvater ist Schriftsteller, und wegen seiner Texte war das Leben in Libyen für die Familie zu gefährlich geworden. Die Al Tajirs haben drei Kinder, ein Mädchen von damals zehn Jahren, einen Jungen von acht und ein vierjähriges Mädchen.
Vor dem ersten Treffen waren wir sehr aufgeregt. Wie würden wir uns verständigen können? Was würden wir konkret tun können? Wir haben uns in einer Pizzeria getroffen, in der Nähe der städtischen Unterkunft, in der die Al Tajirs am Anfang lebten. Am verabredeten Abend holten wir die Familie dort ab. Wir standen gemeinsam im Foyer der Einrichtung und lächelten uns an, reden konnten wir kaum miteinander, die Eltern sprachen sehr wenig Englisch, und von uns spricht niemand auch nur ein Wort Arabisch. Die Situation war irgendwie komisch, wir waren alle verlegen und mussten ein bisschen lachen. Später im Restaurant wurden wir von einem Übersetzer unterstützt, und so erfuhren wir ein wenig mehr von der Familie. Mit den Kindern verständigten wir uns mithilfe von kleinen Zeichnungen, daran hatten alle Spaß. Die Eltern erzählten von ihrer Flucht und von ihrem Leben vor dem Krieg in Libyen. Frau Al Tajir war Lehrerin gewesen, und ihr Mann hatte als Schriftsteller und Journalist gearbeitet. Obwohl wir über ihre Flucht sprachen, ist dieser Abend uns allen in sehr heiterer Erinnerung.
Von da an haben wir uns regelmäßig getroffen, nach ein paar Wochen kamen Al Tajirs zum ersten Mal zu uns, die jüngste Tochter war einige Tage vorher im Kindergarten aufgenommen worden, ihre Geschwister besuchten seit kurzem die Grundschule. Alle zusammen sangen wir am ersten Abend bei uns "Oh Tannenbaum." Wir versuchten die Familie zu unterstützen, wobei unsere Hilfe vorwiegend eine beratende war.
Nach einem halben Jahr konnten sie in eine eigene Wohnung umziehen, die Kinder wechselten die Schule, und ihr Leben wurde scheinbar geordneter. Gab es Probleme in den Schulen der Kinder, bei Ärzten oder Behörden, dann versuchten wir zu vermitteln. Frau Al Tajir besuchte einen Deutschkurs und lernte erstaunlich schnell, die jüngste Tochter redete nach kurzer Zeit im rheinischen Singsang.
Ein Problem mit den Ohren machte es Herrn Al Tajir schwer, die neue Sprache zu lernen. Der Sohn war bei unseren Treffen immer sehr schweigsam, er hielt sich zurück. Einmal gab es bei uns ein großes Karnevalsfest, zu dem Al Tajirs kamen, sie tanzten ausgelassen mit den anderen Jecken, gaben ihr Bestes, um die seltsamen Bräuche zu verstehen. Unsere Treffen waren meistens gemeinsame Abendessen, gelegentlich trafen wir uns auch in Museen, im Schwimmbad oder zu einem Picknick im Park. Bei unseren Zusammenkünften sprachen wir über ihre Probleme, aber auch andere Themen, etwa Religion, Politik und Kulinarik, hatten ihren Platz.
Dennoch: wir alle spürten, dass wir uns zwar sympathisch waren, aber wir waren eben keine Freunde auf Augenhöhe. Meistens waren wir die Zuhörer, manchmal halfen wir finanziell über die letzten Tage eines Monats hinweg. Wir verbrachten schöne, interessante Abende zusammen, aber es blieb eine gewisse Fremdheit zwischen uns.
Dann geschah etwas Merkwürdiges: Während Frau Al Tajir bis dahin immer sehr offen gewesen war, was ihre Ansichten und auch ihre Kleidung betraf, erschien sie für uns sehr unerwartet bei der nächsten Verabredung mit einem Kopftuch, einige Zeit später dann im Hijab. Während wir uns alle bisher bei der Begrüßung umarmt hatten, erklärte uns Frau Tajir, dass sie meinen Mann zwar sehr schätze, ihm aber in Zukunft nicht mehr die Hand schütteln könne. Wir waren sehr irritiert, suchten nach Erklärungen. Das Gefühl der Fremdheit und die Isolation, so wähnten wir, unter der Al Tajirs wohl litten, brachte sie wohl dazu, die Traditionen aus ihrer Heimat besonders zu pflegen.
Es war eine schleichende Veränderung. Bei einem Abendessen meinte die jüngste Tochter, als mein Mann eine Flasche Wein öffnete, Alkohol sei völlig unangemessen. Der Sohn weigerte sich bei einem Picknick, beim Aufräumen zu helfen, mit der Begründung, er sei ja ein Junge. Unsere Töchter waren empört und brachten ihren Unmut auch lautstark zum Ausdruck. Intellektuell können wir die Veränderungen zwar verstehen und wir versuchen, tolerant zu sein. Aber im Herzen fällt es uns schwer, mit der Fremdheit umzugehen.
Ich stelle mir vor, wie es wäre, müsste ich jetzt zuhause alles aufgeben und nach Tripolis oder Bengasi umziehen. Sicher würde ich meine europäischen Wurzeln und die heimatlichen Traditionen auch sehr pflegen wollen. Das würde mein hypothetisches Heimweh nicht stillen, aber ein wenig getröstet wäre ich wohl. Wahrscheinlich würde ich, wenn ich gezwungen wäre, in einer fremden Kultur zu leben, viel öfter einen christlichen Gottesdienst besuchen, die Predigten viel weniger kritisch beurteilen, und unser Weihnachtsbaum wäre mit Sicherheit besonders groß.
Wir treffen uns weiter mit Al Tajirs, wir hören einander zu, wir lachen miteinander und führen ernste Gespräche. Wir sind behutsam miteinander, heikle Themen versuchen wir auszusparen. Wir haben inzwischen eine gemeinsame Geschichte, aber haben wir auch eine wirkliche Freundschaft?
* Name geändert