Abschied

Wenn ich in den letzten Jahren über meinen Vater nachgedacht habe, dann immer mit dem Gefühl, dass zwischen uns alles geklärt ist. Mehrmals pro Woche haben wir telefoniert, er berichtete von den Neuigkeiten in Daun, von den Sitzungen des Stadtrats, in den er mit 80 Jahren gewählt worden war, von den Flohmärkten, die er regelmäßig organisierte, vom Mundarttreffen, zu dem immer weniger Leute kamen, sie waren alt geworden, gebrechlich. Meinem Vater aber schien das Alter gut zu tun, er blühte noch einmal auf: Er engagierte sich bei Seniorennachmittagen, machte vorher mit seinem Auto mehrere Runden durch die Stadt, um Bekannte zum Treffpunkt zu chauffieren und er sorgte für Kuchenspenden durch die ortsansässigen Bäckereien. Alle paar Wochen besuchte ich ihn und zur Begrüßung umarmte er mich und klopfte mir jedes Mal wie einem guten Kumpel auf den Rücken. Wenn ich ihm mal von eigenen Sorgen oder Problemen erzählte, dann schien er genau zuzuhören, aber er kommentierte mein Leben sehr selten. Er klopfte mir stattdessen beim Abschied umso zärtlicher auf den Rücken. War er mal krank, wehrte er mein Angebot, ihn zu besuchen, immer vehement ab. 

Anders an einem Sonntag im November. Ich solle sofort kommen, sagte er mir am Telefon. Als ich ankam, konnte er sich kaum noch bewegen und hatte starke Schmerzen. Ich begleitete ihn ins Krankenhaus, wo eine besonders schwere und sehr seltene Infektion diagnostiziert wurde. Bis zu seinem Tod knapp zwei Wochen später habe ich jeden Tag viele Stunden mit ihm verbracht. Anfangs plauderten wir in der gewohnten Art, versuchten uns einen Reim auf die Aussagen der Ärzte zu machen, lobten die Fürsorglichkeit einer Pflegerin und solange er die Kraft dazu hatte, klopfte mein Vater mir zum Abschied immer noch auf den Rücken. 

Als es ihm schlechter ging, begann mein Vater über die wirklich wichtigen Dinge zu sprechen, zunächst über die Weltlage, in Amerika war gerade Trump wiedergewählt worden und die Ampelkoalition war zerbrochen. Mit jedem Besuch wurden unsere Gespräche persönlicher. Er erzählte so viel aus seinem Leben und fragte sehr viel über mich. Ich war erstaunt und sehr glücklich, er hat mich gut gekannt, wir hatten trotz allem eine wunderbar ruhige Zeit miteinander. Als er starb, hielt ich seinen Kopf zwischen meinen Händen.

In den ersten Wochen nach seinem Tod hatte ich sehr wenig Zeit zum Trauern. Wegen der großen Nähe, die ich noch wenige Tage vorher gespürt hatte, war mir auch gar nicht klar, dass es nun vorbei war, dass ich ihn nicht mehr sehen würde. Es musste so viel erledigt werden, die Texte für das Sterbeamt mussten ausgesucht werden, die Beerdigung und der Leichenschmaus mussten organisiert werden, Freunde und Nachbarn kamen zu Besuch, ich verbrachte viele Stunden mit meiner Familie, war abgelenkt. Als ich den Leichnam meines Vaters in der Aufbahrungshalle gesehen hab, fiel es mir schwer, eine Verbindung zu meinem heiteren, gelassenen Papa herzustellen. Am offenen Grab hatte ich zum ersten Mal eine leise Ahnung von dem Unerhörten, was geschehen war. Er war wirklich gestorben! 

Tröstlich war es in diesen Tagen, zu spüren, wieviel Wertschätzung meinem Vater entgegengebracht wurde. So viele Menschen haben an der Beerdigung teilgenommen und wir haben sehr viele liebevolle Briefe bekommen. Das hat sehr gutgetan.
Im Alltag überkommt mich die Trauer manchmal ganz plötzlich als eine nicht zu stillende Sehnsucht nach seinem Lachen, einer Plauderei am Telefon oder einem freundlichen Schulterklopfen.

Ich weiß, dass wir beide sehr viel Glück hatten. Mein Vater konnte bis zuletzt ein selbständiges Leben führen, wie er es sich immer gewünscht hatte, wir beide hatten eine lange Lebenszeit miteinander, wir haben uns gut verstanden, ich konnte ihn begleiten. Für all das bin ich sehr dankbar! Und ich habe viel Wesentliches gelernt: Wenn ich traurig bin, dann versuche ich mir ein Beispiel zu nehmen an der Gelassenheit, mit der mein Vater sein Leben gemeistert hat. Manchmal gelingt mir das sogar, dann denke ich: "Ich bin ja seine Tochter!"
Dennoch: Ich vermisse einfach alles.

Stefanie Manderscheid

'Ein Kreuz für die Gestorbenen', gemalt von der Urenkelin mit 3 Jahren (c) privat

'Ein Kreuz für die Gestorbenen', gemalt von der Urenkelin mit 3 Jahren