Auf Dauer konnten die Geschwister aber nicht bei der Tante bleiben, denn als Kriegerwitwe stand sie mit zwei Jungen allein da. Der Bruder begann eine Installateurlehre und zog in ein Lehrlingsheim. Die Kosten dafür übernahm eine andere Tante von ihrem schmalen Gehalt. "Ich selbst musste eine Arbeitsstelle mit Kost und Logis finden, um zu überleben", stellt Agnes F. nüchtern fest. Beide Kinder hätten gern noch die Schule besucht, aber weiterführende Schulen kosteten Geld, und das war nicht da. Niemand beantragte eine Waisenrente. Statt dessen fand das junge Mädchen eine Stelle in einer Bäckerei, zuerst im Haushalt, dann im Verkauf. Eine harte Zeit mit viel Arbeit und wenig Geld. "Die abgeschnitten Brotkanten durfte ich mitnehmen, und wenn ich dann meinen Bruder im Lehrlingsheim besuchte, haben wir die mit Hochgenuss gegessen, die anderen Lehrlinge auch", erzählt Agnes F., und wichtig ist ihr zu sagen: "Brot war zu der Zeit etwas Kostbares."
Sie und ihr Bruder hätten dringend seelische Unterstützung von Psychologen oder Geistlichen gebraucht. "Aber so etwas gab es damals nicht", bedauert sie. Statt dessen erinnert die Seniorin sich an viele Gottesdienste, die sie als Jugendliche besuchen musste, Gottesdienste, die ihr in wenig guter Erinnerung geblieben sind. Für ihren späteren Glaubensweg entscheidend war eine ganz andere Erfahrung: In einem Haus in Troisdorf, in das sie nach dem Bombenangriff flüchtete, beteten Menschen den Rosenkranz: "Das hat mich tief beeindruckt. Und diese Menschen haben sich liebevoll um mich gekümmert in meiner Not und Verstörtheit."
Viele Jahre später lernte Agnes F. ihren Mann kennen, mit dem gemeinsam sie in der Pfarrgemeinde eine Heimat fand. Er starb früh, mit 63 Jahren. Schwer sei das gewesen, aber die Familie, der Freundeskreis, die Menschen in der Pfarrgemeinde, waren ihr Halt und Stütze. Sehr schmerzlich war für sie auch der Tod des Bruders, der 59-jährig starb. "Die enge Verbindung zu ihm ist immer geblieben."
Wer Agnes F. – inzwischen Großmutter und Urgroßmutter – heute erlebt, etwa als lebhafte und fröhliche Leiterin des Seniorentanzkreises oder des Seniorenclubs, kann sich kaum vorstellen, wie schwer der Lebensweg dieser Frau in jungen Jahren war.
Das Gespräch mit Agnes F. führte Ingrid Rasch.