Ein Fünkchen Zuhause

Seit vielen Jahren sitze ich zweimal in der Woche für ein paar Stunden am Kirchenempfang der Severinskirche. In dieser Zeit habe ich natürlich sehr viele verschiedene Menschen in unterschiedlichen Lebenssituationen getroffen, mit vielen habe ich gesprochen, sie haben mir etwas erzählt, andere habe ich schweigend begrüßt, mit einem Nicken oder einem Lächeln. 

Als ich gebeten wurde, für den Pfarrbrief von meinen Erlebnissen mit den obdachlosen oder wohnungslosen Besucherinnen und Besuchern zu erzählen, habe ich zunächst darüber nachgedacht, woran oder ob ich sie überhaupt immer als Menschen ohne eigene Unterkunft erkenne. Obdachlos oder wohnungslos zu sein, das bedeutet zuallererst kein eigenes Zuhause zu haben, im schlimmsten Fall überhaupt kein Dach über dem Kopf, keinen privaten Rückzugsraum. Damit verbunden sind häufig vielfältige finanzielle, soziale, psychische und gesundheitliche Probleme.

Alle haben sie zwar ähnliche Probleme, allerdings sind die Menschen sehr unterschiedlich – wie wir alle. Die Gruppe der Obdachlosen und Wohnungslosen ist keine homogene Gruppe.

Mein erster Impuls ist es, die Menschen, denen ich begegne, sei es beim Kirchenempfang oder woanders, einzuordnen, einzuschätzen. Das geschieht unbewusst und hat sich schon sehr oft als völlig falsch herausgestellt. 

Was bedeutet das aber für meine Erfahrungen mit den obdachlosen Menschen? Jenseits der Klischees in meinem Kopf gibt es natürlich trotzdem bestimmte Erkennungszeichen: Kommt jemand mit vielen Tüten bepackt, im Winter oft zu dünn, im Sommer oft zu warm bekleidet, manchmal spürbar alkoholisiert in die Kirche, ist es wahrscheinlich jemand ohne ein Zuhause. Ein Zuhause, wie ich es kenne, wohin ich mich jederzeit zurückziehen kann, wenn mir alles zu viel wird, idealerweise ein Ort, an dem jemand auf mich wartet, wo mir jemand zuhört, an dem ich meine persönlichen Geheimnisse haben kann, wo ich allein sein kann, ein Ort zum Nachdenken und so vieles mehr, was für mich selbstverständlich ist. 

Die meisten dieser Besucher ohne ein Zuhause verhalten sich sehr respektvoll in unserer Kirche: Sie ziehen beim Eintreten ihre Mütze ab, sie betteln nicht, sie sprechen leise, setzen sich in eine Bank und manchmal halten sie ein kleines Schläfchen, ordnen ihre Habseligkeiten neu und ziehen danach weiter. Einige unterhalten sich gerne, aber viele bleiben lieber für sich. Diejenigen, mit denen ich ins Gespräch
komme, schütten mir nur selten ihr Herz aus, manchmal erzählen sie von den Schwierigkeiten in ihrer Unterkunft, von Streitigkeiten mit den Mitbewohnern oder von ihrer Familie, den lange verstorbenen Eltern oder den Geschwistern, zu denen sie keinen Kontakt mehr haben. Obwohl ich ihre Lebensgeschichte kaum kenne, habe ich das Gefühl, einige dieser Frauen und Männer mittlerweile ein bisschen zu kennen. Ich freue mich jedes Mal, ein bekanntes Gesicht wiederzusehen. Ihre Gesichter haben sich mir eingeprägt: Sehr auffällig ist, wieviel schneller sie altern als die anderen Menschen. Das Leben ohne Zuhause ist auch körperlich sehr zehrend. 

Ich kann nicht viel mehr tun, als sie freundlich zu begrüßen, ihnen zuzuhören, wenn sie reden wollen, es zu respektieren, wenn sie ihre Ruhe haben wollen, ihnen so im besten aller Fälle für eine kurze Zeit ein Fünkchen Zuhause anzubieten. Ich versuche, diesen Menschen genauso zu begegnen wie den übrigen Besuchern der Kirche.

Viel ratloser bin ich bei einer anderen Gruppe von Besuchern: Es gibt in unserer Umgebung zahlreiche eingewanderte Familien, oft aus Osteuropa, die in Gemeinschaftsunterkünften leben. Sie sind also nicht obdachlos, haben aber kein privates Zuhause.
Einige kommen zu uns zum Kirchenempfang, um ihr Leid zu klagen und um Hilfe zu bitten. Ich überlege dann, wohin sie sich wenden können, um ihre Situation zu verbessern. Beim Kirchenempfang haben wir eine Liste mit verschiedenen Hilfsangeboten und manchmal kann ich vermitteln. Die Erwartung, direkte finanzielle Hilfe zu bekommen, muss ich enttäuschen, das fällt mir schwer.

So ist es für mich immer wieder auch eine Herausforderung, allen Besucherinnen und Besuchern mit ihren ganz eigenen Problemen gerecht zu werden und ihnen auf Augenhöhe zu begegnen, egal woher sie kommen und wo oder wie sie wohnen.

Stefanie Manderscheid

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