Der christliche Gott ist kein Gott, der sich in Palästen einschließen lässt. Er kommt nicht im Glanz der Welt, sondern in der Zerbrechlichkeit, in der Armut, in der Heimatlosigkeit in die Welt. Die Bibel erzählt davon: Jesus wird nicht im Haus der Schönen und Reichen geboren, sondern in einem Stall (Lk 2,7). Genau dort beginnt Gott sein Menschsein – nicht im Schutz von Mauern, sondern im offenen, kalten Raum einer fremden und rauen Welt.
Später sagt Jesus über sich selbst: "Die Füchse haben Höhlen und die Vögel des Himmels Nester; der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann" (Lk 9,58). Dieser Satz klingt fast beiläufig, und doch ist er eine der tiefsten Aussagen des Evangeliums. Gott selbst wird in Jesus Christus obdachlos. Jesus verzichtet auf alles, was Sicherheit gibt. Er ist ein Gott, der unterwegs ist. Ein Gott, der für sich keinen prunkvollen Sakralbau wählt, sondern ein einfaches Zelt als Unterkunft.
Wenn wir heute von Obdachlosigkeit sprechen, ist das nicht nur ein soziales Problem in unserer Stadt, sondern die Lebensrealität von vielen Menschen. Zwischen Neumarkt, Ebertplatz und Hauptbahnhof, aber auch in unserem Veedel gibt es Menschen, die kein Zuhause haben. Sie schlafen in Hauseingängen, in U-Bahn-Schächten, auf Parkbänken. Sie tragen ihre Habseligkeiten in Plastiktüten, schlafen in Schlafsäcken, die oft zu dünn sind für die Kälte der Nächte. Viele von ihnen haben alles verloren: Wohnung, Arbeit, Familie, Vertrauen in andere und Vertrauen in sich selbst. Sie kämpfen Tag für Tag ums Überleben – zwischen Einsamkeit, Krankheit, Drogen. Sie versuchen, einfach irgendwie durchzukommen. Ihre Gesichter erzählen Geschichten, die weh tun können. Und gerade dort, wo wir im Vorbeigehen manchmal lieber wegsehen würden, begegnet uns im Gegenüber das Antlitz Christi. Im Evangelium identifiziert sich Jesus selbst mit den Wohnungslosen, den Heimatlosen, den Verlorenen. Er stellt sich auf ihre Seite, nicht aus Mitleid, sondern aus Solidarität. "Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan" (Mt 25,40).
In diesem Satz verdichtet sich das Evangelium: Wer den Armen begegnet, begegnet Christus.
Als Glaubende sind wir eingeladen, in den Gesichtern dieser Menschen den wohnungslosen Gott zu erkennen. Vielleicht ist es gerade dort, wo wir an unsere Grenzen kommen, wo wir nicht weiterwissen, dass er uns am nächsten ist. Wer hinsieht, erkennt: Gott bleibt nicht auf Distanz. Er wohnt mitten in der Not, mitten im Chaos, mitten im Leben.
Vielleicht begegnen wir in den Schlafsäcken, in den müden Blicken und gebrochenen Geschichten dem, der uns selbst schon lange sucht. Vielleicht lehrt uns der obdachlose Bruder oder die obdachlose Schwester auch etwas über das Leben, oder auch den Glauben. Vielleicht können wir lernen, was Vertrauen heißt – leben ohne Sicherheiten; hoffen ohne jeden Grund dazu; Liebe ohne Besitz.
Als Christ*innen ist unsere Aufgabe klar: Hinsehen. Dableiben. Mittragen. Mitfühlen. Anpacken. Das braucht Mut und Herz, denn es kostet etwas, sich berühren zu lassen, die eigene Sicherheit und Gewohnheit ein Stück weit zu verlassen. Aber wer sich berühren lässt, erfährt etwas vom Leben des Gegenübers, über sich selbst und womöglich vom Wesen Gottes.
Als Kirche ist unsere Aufgabe klar:
Konkrete Unterstützung in Notlagen. Achtsam sein dafür, dass Menschen in herausfordernden Situationen nicht in prekäre Lebensumstände abrutschen. Orte schaffen, an denen obdachlose Menschen würdevoll empfangen werden können. Die Stimme erheben für Menschen, die oftmals selbst keine mehr haben, weil sie nicht mehr glauben können, dass ihnen jemand zuhört.
Dabei kann uns helfen, dass der wohnungslose Gott längst bei uns Wohnung genommen hat – in Herzen, die offen sind, in Händen, die teilen, in Blicken, die nicht verurteilen. Wenn wir das glauben und leben, dann kann unsere Stadt ein Ort werden, an dem Würde gelebt, Liebe spürbar und Gott erfahrbar wird – mitten auf der Straße.
Stefan Burtscher, Seelsorger in St. Severin und Gubbio (Obdachlosenseelsorge)