Deshalb ist es auch nicht leicht, so Bruder Markus, einfache Lösungen zu finden. Es ist nicht damit getan, Wohnungen einzurichten und Arbeitsplätze zu finden und zu meinen, dann kommt alles schnell wieder ins Lot. Weil es sich um ganz unterschiedliche Menschen mit unterschiedlichen Problemen handelt, ist es viel schwieriger, ihnen aus ihrer Situation zu helfen. Bruder Markus verdeutlicht das anhand eines Fünf-Säulen-Modells, das der Psychologe Hilarion Petzold entwickelt hat. Die fünf Säulen, auf denen das Leben eines Menschen Stabilität erhält, sind: die Gesundheit, die sozialen Beziehungen, die Arbeit, die Spiritualität und die Werte.
Wenn mehrere Säulen brüchig geworden sind, dann ist die Gefahr groß, dass das Leben nicht gelingt. Man muss bei der Hilfe für Obdachlose alle fünf Säulen in den Blick nehmen. "Man kann die Menschen nicht einfach von der Straße holen, man muss auch die Straße aus den Menschen kriegen", das ist eine Erkenntnis, die für Bruder Markus zentral ist.
Und jetzt denke ich während unseres Gespräch an unser Thema: Macht und Ohnmacht. Je mehr Säulen nicht mehr tragen, und das gilt sicher nicht nur für die Obdachlosen, desto ohnmächtiger fühlen sich die Menschen.
"In dreifacher Hinsicht ist das Thema Macht und Ohnmacht auf der Straße relevant", meint Bruder Markus. "Zum einen: Gegenüber anderen Menschen fühlt man sich ohnmächtig. Angewiesen zu sein auf Hilfe von anderen Menschen, das bedeutet ohnmächtig sein. Es ist aber auch, zum zweiten, die Ohnmacht gegenüber Institutionen und Ämtern, sich ausgeliefert fühlen, den nächsten Schritt zu tun, ist oft so schwer, die Hürden sind hoch. Wer stärker psychisch krank ist, der schafft das alleine einfach nicht. Die Ohnmacht gegenüber sich selbst kommt als drittes hinzu, das Gefühl, dass man nichts machen kann. Eine Lebens-Sinn-Ohnmacht, das Leben erscheint zu groß." Genau da setzt Bruder Markus an: Er spricht mit den Betroffenen, hört ihnen zu, begegnet ihnen auf Augenhöhe, versucht ihrem Leben einen spirituellen Sinn zu geben.
Bei GUBBIO in der Südstadt, wo Bruder Markus arbeitet, werden neben gemeinsamen Gottesdiensten und Gebetszeiten auch Spielenachmittage, Kino- oder Museums-besuche angeboten sowie Ferienfahrten werden unternommen. Man kann auch einfach so da sein, als willkommener Gast.
"Und das Wichtigste", sagt Bruder Markus: "Alle werden ernstgenommen." Indem er zuhört, wenn die Menschen von ihrem Leben erzählen, indem er die Situationen mit ihnen gemeinsam aushält, indem er mit ihnen betet, ihnen auf Augenhöhe begegnet – dadurch stärkt er die spirituelle Seite der Menschen.
"Es ist eine sehr franziskanische Erfahrung, die ich bei meiner Arbeit mache. Gott finde ich auf der Straße."
Für mich ist am Ende des Besuchs klar, dass Bruder Markus den Menschen ihre Würde zurückgibt. Seine Macht erkenne ich im Zuhören, in der Zuwendung, in der Zuneigung, im gemeinsamen Aushalten.
Ich frage ihn, ob das vielleicht die wahre Macht sein könnte: "Ja", sagt er, "ganz besonders, weil sie jeder ausüben kann. Wenn man durch die Schildergasse geht und sich vornimmt, jedem Bettler, den man trifft, zwei Euro zu geben, dann ist am Ende der Schildergasse das Portemonnaie leer. Jetzt kann man sich überlegen, ob man das will. Ich würde auf keinen Fall sagen, als Christ muss man das. Nein, man kann auch sagen, das mach ich bewusst nicht. Aber man hat die Macht, dem anderen als Mensch zu begegnen. Jemanden als Mensch zu würdigen, ihm in die Augen zu schauen, diese Macht hat man."
Wir verabschieden uns. Als ich auf dem Heimweg wieder über den Chlodwigplatz fahre, sehe ich viele verschiedene Menschen.