Kein Wort an die Nachkommen über die Kriegszeit
Marta D. (74) wollte über ihre Kindheits- und Jugenderfahrungen sprechen, doch dann verließ sie der Mut. Zu schmerzlich, fürchtete sie, würde die Konfrontation sein. Mit ihrem Einverständnis sprach die Pfarrbriefredaktion mit ihrer Tochter, Dr. Gabriele O.
"Ich bin voller Hochachtung vor der Leistung meiner Mutter, und das umso mehr, je älter ich selbst werde." Vor allem in der Zeit der Pubertät wollte die Tochter die Wurzeln der Mutter kennenlernen; sie habe gefragt und immer wieder gefragt, aber die Mutter schwieg hartnäckig. Inzwischen ist es beiden hin und wieder möglich, über die Vergangenheit zu sprechen.
Im Winter 1944/45 plante O.s Großmutter mit ihren Schwestern (der Großvater war als Soldat an der Westfront) und ihren beiden Kindern vom Hof in einem Dorf bei Posen nach Westen zu fliehen, aber es war klirrend kalt, und so blieben sie aus Furcht, dass die Kinder erfrieren. Über das, was geschah beim Einmarsch der russischen Armee, gibt es nur bruchstückhafte Erzählungen. Berichtet wurde etwa, dass eine Großtante später an den Folgen schwerer Misshandlung starb.
In den Nachkriegsjahren hatte sich die Familie offensichtlich arrangiert mit der neuen Zugehörigkeit zum polnischen Staat und dort auch neue Wurzeln geschlagen. Als dann 1957 im Rahmen der letzten großen Welle der Familienzusammenführung durch das Rote Kreuz Kontakt zum Großvater hergestellt werden konnte, entschloss sich die Großmutter, mit den Töchtern in den Westen zu gehen. Nach einem Aufenthalt im Lager Friedland traf man sich im Ruhrgebiet.
Wider Willen ging Marta D. als 18-jährige junge Frau mit, ließ ein vertrautes Umfeld zurück. In Polen hatte sie eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht, die sie im Westen neuerlich absolvieren musste. Zu dem ihr fremden Vater konnte sie keine Beziehung mehr aufbauen, machte sich sofort selbständig. Tiefe Freundschaften sind offenbar nicht mehr entstanden. "Die Arbeit in ihrem Beruf hat sie sehr getragen", meint die Tochter. Deren Vater wurde als Kind ähnlich oft verpflanzt. Seine Familie floh 1949 bei Nacht und Nebel aus Erfurt in den Westen, ein Familienmitglied saß nach sowjetischer Kriegsgefangenschaft nochmals im Speziallager Nr. 4 (Teil des späteren Stasi-Gefängnisses) in Bautzen ein.
Nicht nur die Tätigkeit als Krankenschwester hat Marta D. geholfen, Wurzeln zu schlagen, sondern auch die Geburt der drei Kinder und das eigene Häuschen, das unter vielen Mühen gebaut wurde.
Sehr bewegt schildert die Historikerin O. eine Erfahrung: "Im Rahmen einer Recherche begegnete mir eine Karte, auf der mit dicken Pfeilen die Wege der russischen Armee nach Westen eingezeichnet waren, und ich habe da erst wirklich realisiert, dass eine der Hauptrichtungen mit zehntausenden Soldaten über Posen ging. Erst danach habe ich meiner Mutter das Recht auf ihr Schweigen zugestanden."
Auf die Frage, wie Marta D. ihren Lebensabend verbringen möchte, weiß sie eine klare Antwort – nur "mit den Füßen zuerst" möchte sie aus dem eigenen Haus wieder ausziehen. Ihre Tochter versteht mittlerweile, dass sie die endlich festsitzenden Wurzeln nicht wieder ausreißen kann.